28. August 2023

Shared Leadership im virtuellen Team

Hybrides Arbeiten im virtuellen Team – mit Teammitgliedern an verschiedenen Standorten – ist mittlerweile das neue Normal. Auch wenn gegenwärtig wieder ein Trend zum Rückruf an den festen Arbeitsplatz wahrgenommen werden kann, ist schwer vorstellbar, dass hybride Arbeitsmodelle verschwinden werden. Eher ist das Gegenteil zu erwarten. Bedingt auch durch die Tatsache, dass – unabhängig von hybriden Arbeitsweisen – immer mehr in globalen Teams gearbeitet wird, deren Mitglieder über die ganze Welt verstreut sind. Virtuelle Teams werden also zum Regelfall.
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Geschrieben von: Prof. Dr. Thomas Wilhelm
Lesedauer: ca. 10 Minuten

Teamleiter:innen stehen bei der virtuellen Zusammenarbeit vor besonderen Herausforderungen. Sie brauchen Antworten auf folgende Fragen: Wie halte ich einen guten Kontakt zu meinen Teammitgliedern? Wie schaffen wir im Team ein Zugehörigkeitsgefühl? Wie überprüfe ich Leistungen? Wie gestalten wir die Kommunikation miteinander? Wie treffen wir Entscheidungen? Wie will ich führen?

Die letzte Frage wirft das entscheidende Schlaglicht auf die zentrale Anforderung an eine Führungskraft, die ein virtuelle Team leiten soll. Sie gipfelt in der sich anschließenden, generellen Frage: Welches Leadership-Modell eignet sich zur Führung eines virtuellen Teams?

Meine Antwort: ein verteiltes Team braucht verteilte Führung. 

Die Rede ist von Shared Leadership

Unter Shared Leadership verstehe ich den dynamischen Wechsel von Führen und Folgen je nach Aufgabe, Projekt, Ziel oder Situation. Das heißt, die Führungsrollen in einem Team können temporär wechseln. Jeder kann prinzipiell zu bestimmten Aufgaben die Rolle eines Führenden übernehmen, während die anderen die Rolle der Folgenden übernehmen.

Das bedeutet nicht, dass es keine formale Führungskraft mehr gibt. Ganz im Gegenteil: die formale Führungskraft wird gebraucht, wenn es Konflikte oder Krisen gibt, oder wenn schwerwiegende Entscheidungen getroffen oder Ressourcen gebündelt werden müssen. Jedoch nicht alles, was Führung betrifft, hängt an der formalen Führungskraft. Führungsaufgaben lassen sich teilen. Dieses Teilen von Führungsaufgaben kann spontan geschehen oder verhandelt. Für virtuelle Teams, deren Mitglieder ja räumlich getrennt sind, bietet sich an, Führungsrollen ganz speziell zu verhandeln und zu vereinbaren. So kann jeder im Team, je nach Aufgabe, temporär in eine Leadership-Rolle schlüpfen.

Dass Shared Leadership der richtige Ansatz für virtuelle Teams ist, zeigt auch eine Studie des Fraunhofer-Instituts. In dieser Studie ging es um die Anforderungen an Führung und Zusammenarbeit in einer zunehmend hybriden Arbeitswelt, die vom Nebeneinander von Büroarbeit sowie Zeiten im Homeoffice geprägt ist. Die Studienautoren wollten wissen: »Welche organisatorischen Ausgestaltungen für Führung braucht es Ihrer Meinung nach in der hybriden Arbeitswelt?«. Folgende für uns relevante Trends schätzten die Befragten dabei als »in ihrer Bedeutung zunehmend« ein:

  • Führung auf Zeit (36 Prozent Zustimmung),
  • geteilte Führung (42 Prozent Zustimmung),
  • Führung ohne disziplinarische Kompetenz (49 Prozent Zustimmung).


Alle drei Aspekte beschreiben Facetten von Shared Leadership.

Um Shared Leadership zu etablieren, müssen jedoch gewisse Bedingungen erfüllt sein:

  • es muss einen Vertrauensrahmen geben, in dem Menschen Mut entwickeln können und sich trauen, in Führung zu gehen (Vertrauensraum).
  • Es muss einen Leistungsrahmen aus klaren Zielen geben, in dem jede erkennen kann, welchen Beitrag sie zur Zielerreichung leisten kann (Leistungsraum).
  • Es muss einen Kompetenzrahmen geben, in dem Menschen ihre Stärken gezielt einsetzen können und sich weiterentwickeln und wachsen können (Kompetenzraum).
  • Und es muss einen Entscheidungsrahmen geben, in dem Menschen verantwortungsvoll Entscheidungen treffen, die in entschlossenes Handeln münden (Entscheidungsraum).

Ein wichtiger Faktor bei diesen Erfolgsbedingungen ist die Qualität der Kommunikation: Wie redet man im virtuellen Team miteinander? Hat jeder den Raum, seine Ideen und Meinungen zu äußern? Wie gibt man sich gegenseitig Feedback? Wie werden Themen verhandelt? Wie wird miteinander debattiert? Wie laufen Meetings ab? Etc.

Wenn Shared Leadership erfolgreich praktiziert wird, ergeben sich zahlreiche Nutzenaspekte für virtuelle Teams. Hier eine kleine Aufstellung der positiven Folgen, die zu erwarten sind.

  1. Es können bessere Entscheidungen getroffen werden. Da die Teammitglieder in einem virtuellen Team oft geographisch verteilt sind, hat der Team-Leader nicht immer alle nötigen Informationen, er kennt nicht alle nötigen Perspektiven, um eine Entscheidung zu treffen. Da kann es von Nutzen sein, wenn andere im Team mit einer Entscheidung betraut sind, die eine größere Expertise besitzen, einen reicheren Erfahrungshintergrund haben oder in einem engeren Kontakt zu wichtigen Stakeholdern stehen.
  2. Das Shared Leadership Modell ermutigt ganz automatisch dazu, die Beteiligung bei Entscheidungen zu erhöhen. Die Intelligenz der Gruppe kann auf diese Weise besser genutzt werden. Außerdem könne aufgrund des Shared Leadership Ansatzes Entscheidungen schneller und flexibler getroffen werden. Prinzipiell ist jeder im Team mit der Kompetenz ausgestattet, eine Entscheidung zu treffen, wenn es einen dringenden Anlass dazu gibt.
  3. Engagement und Motivation können sich verstärken. Wenn jeder prinzipiell gefragt ist, eine Leadership Rolle einzunehmen, wenn jeder mehr Empowerment erlebt, dann steigt damit auch die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen. Shared Leadership ist geradezu gleichzusetzen mit mehr Verantwortungsübernahme. Das führt in der Regel auch zu einer stärkeren Identifikation mit den Zielen des Teams. Mit der aktiven Verantwortungsübernahme steigt darüber hinaus das Zutrauen in die Fähigkeit des jeweils anderen im Team. Man weiß, dass man sich aufeinander verlassen kann.
  4. Mehr Sinn und Bedeutung wird geschaffen. Da Ziele gemeinschaftlich erarbeitet werden und jeder sieht, welchen Beitrag – auch in temporärer Führungsverantwortung – er dazu leisten kann, steigt das Gefühl, an etwas Wichtigem oder Bedeutungsvollem mitzuwirken.
  5. Shared Leadership bietet die Möglichkeit, kontinuierlich zu lernen und zu wachsen. Denn wenn man eine Führungsrolle übernimmt, ist dies auch mit speziellen Herausforderungen verbunden, die in der Regel dazu anspornen, Neues auszuprobieren und zu lernen. In einem virtuellen Team kann Shared Leadership also dabei helfen, sich weiterzuentwickeln. Und das ist für uns Menschen immer noch ein wichtiger Motivationsfaktor.
  6. Außerdem ermöglicht die aktive Übernahme einer temporären Führungsrolle den Einsatz der eigenen Stärken. Denn ein Team wird sich häufig dafür entscheiden, eine Führungsrolle nach Expertise, Erfahrung und Kompetenz zu vergeben. Das bedeutet, die Teammitglieder werden öfter die Gelegenheit erhalten, das zu tun, was ihnen leicht fällt, das heißt ihre Stärken zu nutzen. Das wiederum hat eine unmittelbare Rückkopplung auf das Engagement, die Motivation und die Freude an der Arbeit.
  7. Mehr Flexibilität und eine höhere Anpassungsfähigkeit ergeben sich. Geteiltes Führen, bei dem jede aufgefordert ist, bei Bedarf Initiative zu ergreifen, ermöglicht ein schnelleres effektiveres Handeln. Nicht immer muss alles in komplizierten Abstimmungsprozessen geklärt werden, weil man einander vertraut und darauf bauen kann, dass ganz allgemein eine gute Urteilskraft im Team existiert.
  8. Die Kommunikation im Team wird insgesamt gestärkt.Shared Leadership lebt von einem offenen Kommunikationsaustausch, der auch das kritische Wort und die kontroverse Debatte nicht scheut. Man erlebt sich stärker als Gleiche unter Gleichen, die auf Augenhöhe miteinander reden und ihre Ideen, Meinungen und Argumente gleichberechtigt in die Debatte werfen können.
  9. Shared Leadership in einem virtuellen Team ermöglicht jedem im Team Leadership-Fertigkeiten zu entwickeln. Die Entwicklung dieser Skills kann man im geschützten Rahmen eines wohlmeinenden Teams leichter fördern, als wenn man – wie traditionell üblich – aus dem Stand mit einer formalen Führungsrolle betraut wird. Shared Leadership bietet daher gewissermaßen ein Experimentierfeld für die eigenen Leadership-Fähigkeiten.

Alle diese Nutzenaspekte machen das Shared Leadership Konzept für virtuelle Teams attraktiv.

Wichtig ist es nur, mit dem Team auszuhandeln, nach welchen Regeln man Shared Leadership praktizieren möchte. Wenn das gelingt, ist die Basis für mehr Engagement und Erfolg im virtuellen Team gelegt.

Prof. Dr. Thomas Wilhelm

Als Mitbegründer von Projekt Philosophie in München gehört er zu den Pionieren der philosophischen Beratung. In den letzten drei Jahrzehnten begleitete er mehr als 10.000 Manager und Business Professionals in Seminaren, Workshops und Coachings zu den Themen Leadership, Kommunikation und interkulturelle Zusammenarbeit.

Dabei sind auch mehrere Bücher zu verschiedenen Themen entstanden: Argumentieren, Schutz vor Manipulation, Moderation und Ethik.

Er ist außerdem als Mediator und Konfliktmanager tätig.

Seit 2020 unterrichtet er an der Internationalen Hochschule SDI in München, wo er Anfang 2023 zum Professor für Interkulturelles Coaching, Beratung und Leadership berufen wurde.

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